In Deutschland und vielen anderen Ländern kann die Kariesprävention als enorme Erfolgsgeschichte bezeichnet werden. Als wirksamste Maßnahme hat sich die Fluoridnutzung erwiesen. Beim Milchgebiss und bei bestimmten Risikogruppen besteht allerdings noch großer Handlungsbedarf – wo lässt sich gut ansetzen?
In Deutschland sank die Karieslast bei Jugendlichen von 6 bis 8 betroffenen Zähnen in den 1980er-Jahren auf aktuell 0,5 Zähne. Das bedeutet einen Rückgang um mehr als 90 Prozent, seit 1994/95 allein um mehr als 80 Prozent. Auch Erwachsene und sogar Senioren leiden deutlich weniger an Karies und Parodontopathien (IDZ 2016). Im Milchgebiss konnte Karies nur zu ca. 40 Prozent seit 1994/95 reduziert werden. In allen Altersgruppen findet sich ein Großteil des Kariesbefalls in sozioökonomischen Risikogruppen. Dies sollte Anlass sein, künftige Präventionsstrategien anzupassen.
Evidenzbasierte Prophylaxe
Traditionell basiert die Kariesprophylaxe auf vier Säulen (Abb. 1a):
- Ernährungslenkung
- Entfernung von Zahnbelag
- Fluoridierung
- Regelmäßige Zahnarztbesuche
Es scheint, als seien alle Säulen gleichwertig. Der Zahnarztbesuch dient primär der Früherkennung von Läsionen und ist damit eher eine sekundärpräventive Maßnahme. Die Fissurenversiegelung, die nicht im Säulenmodell auftaucht, kann allerdings als Primärprävention angesehen werden, auch wenn die aktualisierte deutsche Leitlinie nicht mehr eine generelle Fissurenversiegelung befürwortet, sondern sehr indikationsbezogen eher bei beginnender Kariesaktivität in Fissuren als minimalinvasive, frühe Restauration eingesetzt wird. Ansonsten bedient man sich in der Gruppen- und Individualprophylaxe einer der drei ersten Säulen.
Bezüglich ihrer wissenschaftlichen Evidenz wird schon lange deutlich, dass diese Säulen nicht gleichwertig sind. Einer Publikation von 1996 zufolge hat vor allem der Einsatz von Fluoriden zum Erfolg in der Kariesprävention geführt (Abb. 1b).
Abb. 1 a: Klassische Darstellung der vier Säulen der Kariesprävention (Brandenburger Kinderzähne 2018) und b: Evidenzlage (Brathall et al. 1996, Kay & Locker 1998, de Silva et al. 2016, Cooper et al. 2013, Marinho et al. 2009)
Die Lokalfluoridierung einschließlich des Putzens mit fluoridhaltiger Zahnpaste ist präventiv und sogar therapeutisch sehr wirksam (Kay & Locker 1998, Trummler & Weiss 2000, Splieth & Meyer 1996), was auch aktuelle Übersichtsarbeiten belegen (de Silva et al. 2016, Cooper et al. 2013, Marinho et al. 2009). Beim Zähneputzen wird nicht nur Zahnbelag entfernt, sondern meist werden auch Fluoride (Zahnpaste oder Gelee) aufgetragen. Damit ist der kariesprotektive Effekt allein der Plaqueentfernung oft schwerer zu messen. Die wenigen Studien aus der Zeit vor der Einführung von Fluoridzahnpaste legen nahe, dass Putzen allein die Plaque- und Gingivitisrate deutlich reduziert, die Karieswerte aber kaum (Koch & Lindhe 1970). Zudem sind Fluoride bei starker Plaquebesiedelung weniger erfolgreich. So stellt die Plaqueentfernung über das Zähneputzen kombiniert mit der Lokalfluoridierung über Zahnpaste einen idealen Präventionsansatz dar, dessen Wirksamkeit ebenfalls eindeutig belegt ist (EAPD 2009, de Silva et al. 2016, Cooper et al. 2013). Diese Form der Kariesprävention ist sowohl in der häuslichen als auch Gruppen- und Individualprophylaxe vorrangig sicherzustellen. Erstaunlicherweise korreliert aktuell Karies in Deutschland immer noch mit eher gutem oder eher schlechtem Zähneputzen (IDZ 2016). Kinder, die seltener als zweimal täglich putzen, haben höhere Karieswerte.
Die wissenschaftliche Evidenz für den kariespräventiven Effekt der Ernährungslenkung ist sehr dünn (de Silva et al. 2016, Cooper et al. 2013, Kay & Locker 1998). Das kann an deren mangelhafter Umsetzung, aber auch einer sehr reichhaltigen, kohlenhydratlastigen Gesamternährung liegen. Für Deutschland kann kein signifikanter Zusammenhang zwischen der Karies und vermehrten Zwischenmahlzeiten nachgewiesen werden (IDZ 2016): Auch klassische „Risikonahrung“ wie Süßigkeiten, Fruchtsäfte, Sportlergetränke, Kuchen oder Eis war bei 12-Jährigen nicht verstärkt mit Karies assoziiert. Zuckerhaltige Erfrischungsgetränke dagegen begünstigen die Kariesentstehung. Auch in anderen Länder ist seit dem Einsatz von Fluoriden der Zusammenhang zwischen Zuckerkonsum und Karies deutlich geringer (Masood et al. 2012).
Wenngleich Kohlenhydrate für Karies verantwortlich sind, wirkt Ernährungslenkung in der Kariesprävention kaum. Trotzdem kann Ernährungslenkung zur Prävention von Übergewicht und anderen gesundheitlichen Problemen beitragen, aber auch hier muss der Umsetzungserfolg genau beobachtet werden. Ernährungslenkung sollte daher in der Kariesprävention vor allem bei erkennbarem Fehlverhalten eingesetzt werden. Insbesondere die frühkindliche Nuckelflaschenkaries ist stark ernährungsbedingt und eine Veränderung von Ernährungsgewohnheiten und des Verhaltens können erfolgreich sein (Sälzer et al. 2017). Allerdings ist auch hier die regelmäßige Mundhygiene mit Fluoridzahnpaste über die Eltern einfacher umzusetzen als die Entwöhnung von süßen Getränken aus der Nuckelflasche. Eine Kariesprävention, die ausschließlich auf dem Parameter Ernährung ohne gleichzeitigen Fluorideinsatz beruht, läuft konträr zur wissenschaftlichen Evidenz (de Silva et al. 2016, Cooper et al. 2013, Kay & Locker 1998). Insbesondere die Reduktion von „getrunkenem“ Zucker in der Nuckelflasche oder als Erfrischungsgetränk erscheint realistisch. Ein „gesundes“ Frühstück dürfte bezüglich der Kariesprävention wirkungslos sein, da bei jeder Hauptmahlzeit genügend, oft versteckte, Zucker aufgenommen werden. Apfel(-saftschorle), Banane, Müsli und Vollkornbrot sind hochgradig kariogen, auch wenn sie als „gesunde“ Nahrung gelten und von Ernährungsberatern präferiert werden.
Kariesprävention im Milchgebiss
Um den Kariesrückgang im Milchgebiss zu verstärken, müssen die erfolgreichen Präventionsmaßnahmen der bleibenden Dentition auf die ersten sechs Lebensjahre übertragen werden. Englische Empfehlungen geben eine gute Übersicht, welche Maßnahmen für dieses Alter im Allgemeinen und bei erhöhtem Kariesrisiko sowohl in der Praxis als auch häuslich eingesetzt werden sollten (Tab. 1).
Die höheren Kariesraten im Milchgebiss beruhen wahrscheinlich nicht nur auf dem Dissens der Pädiater und Zahnärzte in Deutschland über die Mundhygienemaßnahmen und der Nutzung von Fluoridzahnpaste. Die über alle Bevölkerungsschichten zu hohen Karieswerte legen zudem nahe, dass vielleicht auch bei regelmäßigem Zähneputzen die wichtigste Säule der Prävention, die Fluoridnutzung über Kinderzahnpaste, ebenfalls nicht ausreichend gewesen sein könnte. So enthält Kinderzahnpaste mit 500 ppm in Deutschland nur ein Drittel des Fluorids von Erwachsenenzahnpaste. Aufgrund der klaren Dosis-Wirkung-Beziehung (Walsh et al. 2010) wäre darüber nachzudenken, die Fluoridempfehlungen für Deutschland den Europäischen Empfehlungen mit mindestens 1000 ppm ab 2 Jahren anzupassen (EAPD 2009). Bei Kindern mit erhöhter Kariesaktivität oder erhöhtem Kariesrisiko wäre es heute schon sinnvoll, ab 2 Jahren der Europäischen Emfehlung mit dem Einsatz einer Juniorzahnpaste (1250–1450 ppm) zu folgen.
Tab. 1.1: Evidenzbasierter Maßnahmenkatolog zur Kariesprävention im Milchgebiss modifiziert nach Public Health England (2013). Evidenzgrade reichen von I für sehr hoch bis V mit sehr niedrig.
Sozialstatus und orale Erkrankungen
Mit dem Kariesrückgang lässt sich für die verbleibende orale Morbidität eine starke Korrelation zum Sozialstatus erkennen (Schwendicke et al. 2015, DAJ 2009). Möglichweise steigen mit dem Sozialstatus die Selbstwirksamkeit und die Kontrollüberzeugung, sodass sich Präventionsverhalten verändert (IDZ 2016).
Der gemeinsame Risikofaktoren-Ansatz (Watt & Sheiham 2012) bietet ein theoretisch fundiertes Konzept, um das sozioökonomische Wirkungsgefüge im Rahmen der Kariesprävention zu berücksichtigen. Ein zugehender Ansatz wie in der Gruppenprophylaxe ist hier sinnvoll, da bereits breit gefächerte Präventionsstrukturen bestehen. Damit sollte Kariesprävention in Risikogruppen in einem breiteren Kontext gedacht und umgesetzt werden, was mehrere Vorteile aufweist:
- Soziale Risikogruppen können schwerpunktmäßig betreut werden.
- Es ist kein primärer Antrieb der Klienten nötig, sondern die Präventionsmaßnahmen können aufsuchend und vernetzt in den Zielgruppen erfolgen.
- Die Schulpflicht, die hohen Betreuungsraten in Kindertagesstätten, die gesetzliche und finanzielle Regelung der Grupenprophylaxe sowie gesetzliche Verpflichtungen zu begleitenden zahnärztliche Untersuchungen ermöglichen einen hohen und verbindlichen Erreichungsgrad.
- Die Vernetzung mit anderen Akteuren kann für einen umfassenden interdisziplinären Ansatz genutzt werden.
Zusammenfassung
Fluoride spielen die zentrale Rolle in der Kariesprävention. Weiterhin erhöhte Karieswerte im Milchgebiss und in Gruppen mit niedrigem sozioökonomischem Status sind wahrscheinlich auf einen suboptimalen Fluorideinsatz, besonders das Zähneputzen mit fluoridhaltiger Zahnpaste zurückzuführen (IDZ 2016). Damit liegt kein Wissens- oder Erkenntnisproblem vor, sondern ein Motivations- und Umsetzungsproblem. Die Evidenz für beratende Leistungen ist eher gering. Einzige Ausnahme ist das „Motivational Interviewing“, was aber tendenziell ein Einzelgespräch voraussetzt (Sälzer et al. 2016). Bezüglich der Erreichbarkeit bietet die zugehende, das heißt im Setting-Ansatz aufsuchende Gruppenprophylaxe große Chancen und Vorteile – gerade für den Ausgleich von sozialen Unterschieden bei der (oralen) Gesundheit, was allerdings eine Konzentration und Intensivierung bei Risikogruppen erfordert.
Zur Prävention von Frühkindlicher Karies und der generell zu hohen Karies im Milchgebiss wäre die Ausweitung der Individualprophylaxe/Früherkennungsuntersuchungen in der Zahnarztpraxis vom ersten Zahn an wichtig. So wirkten beispielsweise in Jena folgende international empfohlenen Maßnahmen nicht nur generell kariesprotektiv, sondern die größten Erfolge konnten in der sozioökonomisch charakterisierten Risikogruppe erzielt werden (Wagner & Heinrich-Weltzien 2017):
- Beratung der Mütter zur Bedeutung des Stillens
- Empfehlungen zur Nutzung von Nuckelflaschen und Schnullern
- Empfehlungen für eine gesunde Ernährung
- Bedeutung von regelmäßigen Besuchen beim Kinderarzt und von Kariesprävention
- Empfehlung zum einmal täglichen Zähneputzen mit Durchbruch des ersten Zahnes unter Nutzung von fluoridhaltiger Kinderzahnpaste (500 ppm F), ab dem 2. Geburtstag zweimal täglich mit einer erbsengroßen Menge Fluoridzahnpaste
- professionelle, regelmäßige zahnärztliche Kontrolle, Beratung zur Prävention und halbjährlicher Recall
- Broschüre zum richtigen Zähneputzen in Muttersprache
- kostenlose erste Kinderzahnbürste, fluoridhaltige Kinderzahnpaste und Schnuller
Damit bestehen bereits jetzt ausgezeichnete theoretische Konzepte und gesetzliche Strukturen für eine erfolgreiche, bevölkerungsweite Adressierung der aktuell erkennbaren Präventionslücken.
Prof. Christian H. Splieth, Universität Greifswald
Literatur
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