Bei Patienten mit schweren chronischen Allgemeinerkrankungen verschiebt sich die Wahrnehmung: Aufgrund der insgesamt stark beeinträchtigten Gesundheit schwindet die Bedeutung der Mundgesundheit und oraler Erkrankungen. Das hat praktische Konsequenzen für die zahnärztliche Betreuung.
Die Mehrzahl der Patienten geht kontrollorientiert zum Zahnarzt. Ihr primäres Ziel ist es, oralen Erkrankungen vorzubeugen oder diese früh zu erkennen. Außerdem suchen die Patienten den Zahnarzt auf, wenn sie Veränderungen in der Mundhöhle und Schmerzen im Bereich der Zähne oder des Zahnfleischs wahrnehmen. Dieses nachvollziehbare Verhalten würde man auch von Patienten erwarten, die unter einer (chronischen) Allgemeinerkrankung leiden. Aufgrund der bekannten Zusammenhänge zwischen Mund- und systemischer Gesundheit ist es bei diesen Patienten sogar wünschenswert, dass sie noch öfter zum Zahnarzt gehen. Allerdings ist das Gegenteil der Fall: Obwohl schwer chronisch Erkrankte, wie etwa Rheumatiker, Dialysepflichtige oder Menschen mit Organtransplantationen, häufiger an Karies oder Parodontitis erkranken, nutzen sie seltener zahnärztliche Präventionsmaßnahmen oder die Interdentalraumpflege. Wiederholt wurde ein Wechsel von kontroll- hin zu beschwerdeorientierten Zahnarztbesuchen beobachtet (1–3).
Während Defizite der Mundgesundheit bei schwer Allgemeinerkrankten mehrfach beschrieben wurden, fehlte es bisher an Erkenntnissen über die Ursachen dafür sowie entsprechenden praktischen Konsequenzen für die zahnmedizinische Betreuung betroffener Patienten. Die Arbeitsgruppe Interdisziplinäre Zahnerhaltung und Versorgungsforschung der Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie an der Universität Leipzig erforscht seit Jahren die orale Situation verschiedener Gruppen schwer Allgemeinerkrankter und sucht nach möglichen Erklärungen für die Defizite ihrer Mundgesundheit.
Patientenperspektive liefert neue Erkenntnisse
Nachdem zunächst primär eine mangelnde Aufklärung der Patienten und fehlende Informationen bei den behandelnden (Fach-)Ärzten vermutet wurden, ergaben sich neue Erkenntnisse als gezielt die Patientenperspektive erfasst wurde. Die Wissenschaftler ermittelten die mundgesundheitsbezogene Lebensqualität der Patienten (MLQ) mithilfe eines Fragebogens und setzten sie mit der klinischen Mundgesundheitssituation sowie mit Parametern, die für die Grunderkrankung spezifisch sind, in Beziehung.
Die verschiedenen Erkrankungsgruppen – seien es Patienten mit Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises, Dialysepflichtige oder Menschen mit Organtransplantationen (Herz, Leber, Lunge, Niere) – hatten dabei eine wesentliche Gemeinsamkeit. Alle Gruppen wiesen eine subjektive Wahrnehmung ihrer Mundgesundheit auf, die oft nicht zu den zahnärztlichen Befunden bzw. der oralen Gesundheit passte. Anders als bei allgemeingesunden Patienten spielten beispielsweise Zahnverlust, Karies und Parodontitis oft keine Rolle für die MLQ der grunderkrankten Patienten (4–6). Hingegen beeinflussten Parameter wie Dauer, Schwere und Verlauf der Grunderkrankung die MLQ meist wesentlich.
Bei schwer chronisch Allgemeinerkrankten scheint es eine Wahrnehmungsverschiebung zu geben – quasi als Anpassung an ihre chronische Erkrankung im Sinne des von Sprangers und Schwarz 1999 beschriebenen „Response Shift“ (7). Das bedeutet: Aufgrund der Belastungen durch die Allgemeinerkrankung und gegebenenfalls deren Therapie kann sich die Schwelle verschieben, ab welcher ein „ungünstiger/inadäquater“ Mundgesundheitszustand mit Karies, Parodontitis oder Zahnverlust als einschränkend oder belastend wahrgenommen wird (Abb. 1 und 2). Als Konsequenz ist denkbar, dass die Patienten ihr Verhalten ändern und eher wegen Beschwerden und weniger zur favorisierten Prävention zum Zahnarzt gehen. Dies wäre eine mögliche Erklärung für die Mundgesundheitsdefizite der schwer Allgemeinerkrankten aus der Patientenperspektive.
Interdisziplinäre Betreuung empfehlenswert
Aus diesen Erkenntnissen und der Hypothese der Wahrnehmungsveränderung lassen sich praktische Implikationen für die zahnärztliche Betreuung von Patienten mit Allgemeinerkrankungen ableiten. Aus zahnärztlicher Sicht ist zu empfehlen, die Patienten für die Bedeutung der Mundgesundheit zu sensibilisieren. Außerdem sollten sie umfassend informiert und zur Steigerung von Mundhygiene und präventionsorientiertem Verhalten motiviert und instruiert werden. Ebenso ist eine interdisziplinäre Betreuung sowie eine soziale/psychologische Beratung und ggf. Begleitung der Patienten zu erwägen, um mögliche psychosoziale Einschränkungen wie Überlastung, Angst oder Depressionen adäquat zu adressieren (Abb. 3). Insgesamt erscheint es in jedem Falle sinnvoll, die Patientenperspektive in der zahnmedizinischen Betreuung von Patienten mit schweren Allgemeinerkrankungen zu erfassen und bei der Planung und Durchführung von Therapie- und Präventionsmaßnahmen zu berücksichtigen.
Dr. Gerhard Schmalz, Univ.-Prof. Rainer Haak, Prof. Dirk Ziebolz, Universitätsklinikum Leipzig
Literatur
- Schmalz G, Wendorff H, Berisha L, Meisel A, Widmer F, Marcinkowski A, Teschler H, Sommerwerck U, Haak R, Kollmar O, Ziebolz D. Association of time after transplantation and different immunosuppressive medication with dental and periodontal treatment need of patients after solid organ transplantation. Transpl Infect Dis. 2018;20(2):e12832.
- Schmalz G, Schiffers N, Schwabe S, Vasko R, Müller GA, Haak R, Mausberg RF, Ziebolz D. Dental and periodontal health, microbiological, and salivary conditions in hemodialysis patients with or without diabetes. Int Dent J. 2017;67(3):186-193.
- Schmalz G, Noack S, Patschan S, Patschan D, Müller GA, Rupprecht A, Schmickler J, Haak R, Ziebolz D. Disease activity, morning stiffness and missing teeth are associated with oral health-related quality of life in individuals with rheumatoid arthritis. Clin Oral Investig. 2020 Feb 6. doi: 10.1007/s00784-020-03226-3. [Epub ahead of print]
- Schmalz G, Patschan S, Patschan D, Ziebolz D. Oral health-related quality of life in adult patients with end-stage kidney diseases undergoing renal replacement therapy – a systematic review. BMC Nephrol. 2020;21(1):154.
- Schmalz G, Patschan S, Patschan D, Ziebolz D. Oral-Health-Related Quality of Life in Adult Patients with Rheumatic Diseases-A Systematic Review. J Clin Med. 2020;9(4).
- Schmalz G, Garbade J, Kollmar O, Ziebolz D. Does oral health-related quality of life of patients after solid organ transplantation in-dicate a response shift? – Results of a systematic review. BMC Oral Health 2020 [in press]
- Sprangers MA, Schwartz CE. Integrating response shift into health-related quality of life research: a theoretical model. Soc Sci Med. 1999;48(11):1507-15.